Dubiose Motive
Wenn man sich die aktuelle Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine ansieht dann wird mir mal wieder deutlich, was die Intuitiven Typen (die Minderheit) von den Sensortypen (die Mehrheit) unterscheidet. Sensortypen leben im hier und jetzt, Intuitive beschäftigen sich mit der Vergangenheit und ziehen daraus Rückschlüsse auf die Zukunft. Und wahrlich ist es beim Krieg in der Ukraine nicht so dass da allzuviel neue Entwicklungen dabei wären, alles schon einmal dagewesen.
Jake Broe hat auf Youtube herausgestellt, dass Russland den Krieg eigentlich bereits verloren hat und hat die Situation mit dem zweiten Weltkrieg verglichen und die immensen Mengen an Waffen und Material mit denen die USA damals die Sowjetunion unterstützt hat. Ich finde dass es sogar noch eine bessere Analogie gibt, nämlich die Situation im ersten Weltkrieg für Deutschland.
Man hatte schon in der Marneschlacht 1914 das Problem, dass beiden Kriegsparteien effektiv die Munition ausgegangen ist und es Monate bis Jahre gedauert hat bis die Industrie ihre Kapazitäten ausgeweitet hat. Als Notlösung gab es Behelfsgranaten aus Gusseisen, die aber für die Bedienungsmannschaften wegen der häufigen Rohrkrepierer gefährlicher waren als für den Feind, was aber die Munitionsfabriken nicht daran gehindert hat sich den Schrott auch noch teuer bezahlen zu lassen. Im Kapitalismus kann man sich aber vor allem darauf verlassen dass da wo sich viel Geld mit einem Produkt verdienen lässt auch alle Hebel in Bewegung gesetzt werden das Produkt in ausreichender Menge zur Verfügung zu stellen. Spätestens 1916 hatten die Deutschen in Verdun und die Briten an der Somme genügend Munitionsnachschub für tagelanges Trommelfeuer aus allen Rohren.
Wenn man sich die Statistik der zehn größten Rüstungsexportnationen ansieht, dann sind acht davon auf Seiten der NATO und ihrer Verbündeten und nur Russland und China fehlen. Wobei China es sich wegen der Beziehungen zum Westen nicht leisten kann großartig Waffen an Russland zu liefern und Russland stark auf Komponenten aus dem Westen angewiesen ist - man erinnere sich daran, dass sich der ukrainische Botschafter darüber beschwert hat dass in russischen Panzern Teile von Bosch gefunden wurden. Natürlich gibt es im Moment das Problem dass die Kapazitäten im Moment noch nicht für einen Krieg in dieser Größenordnung ausreichen, aber das ist nur eine Frage der Zeit bis das Problem gelöst wird.
Und damit hat man die gleiche Situation wie Deutschland im ersten Weltkrieg: selbst vor dem direkten Kriegseintritt der USA fuhr Geleitzug um Geleitzug mit Material nach Frankreich und Großbritannien und es gab keinen Weg diesen Nachschub zu unterbinden. Die einzige Hoffnung war der U-Boot-Krieg und der hat ja am Ende nur dazu geführt dass die USA direkt in den Krieg eingetreten sind.
Es ist also im Prinzip im Moment völlig irrelevant, ob Russland Gebiete (genauer gesagt: Trümmerfelder) erobern kann oder nicht, genauso wie es nichts ausgemacht hat dass große Teile Nordfrankreichs von Deutschland besetzt waren. Deutschland hat sich 1918 auch freiwillig ein gutes Stück auf die im Hinterland errichtete und strategisch günstig gelegene Siegfriedlinie zurückgezogen. Aber Putin steht jetzt in der gleichen Zwickmühle wie Hindenburg und Ludendorff 100 Jahre vorher: man muss zusehen wie der Gegner durch den ständigen Nachschub immer stärker wird und damit die Niederlage langfristig unausweichlich ist. Die einzige Chance liegt in einer letzten, großen Anstrengung um doch noch eine strategische Wende, einen Durchbruch herbeizuführen. Genau das wurde mit der Frühjahrsoffensive 1918 versucht, man konnte 50 Kilometer vorstoßen, mehr als in all den Jahren zuvor, aber der Zusammenbruch Frankreichs blieb aus.
Der Rest ist Geschichte: im Herbst wurden die durch die Offensive endgültig abgekämpften Deutschen von den frischen US-Amerikanern ohne große Gegenwehr überrollt und es blieb nur die quasi-Kapitulation. Die Ukraine hat durch die Generalmobilmachung mehr Soldaten als sie ausrüsten kann, kann es sich also leisten diese Truppen an den neuen Waffen auszubilden und dann als frische, kampfkräftige Einheiten in die Schlacht zu werfen wo sie auf genauso erschöpfte Russen und noch viel erschöpftere und schlecht ausgerüstete Donbass-Infanterie treffen.
Genauso wie im Frühjahr 1918 ist heute der Zusammenbruch der Ukraine trotz der russischen Großoffensive in den kommenden Monaten sehr, sehr unwahrscheinlich und Putins Kriegsglück steht und fällt einzig und allein damit wie der Westen zur Ukraine steht. Deshalb ist das natürlich klar, dass Putin mit seinen Kettenhunden Medwedew und Lawrow auf psychologische Kriegsführung setzt, die einzige ihm verbleibende Waffe. Und insofern erschreckt mich vor allem das Verhalten von Bundeskanzler Scholz, der allem Anschein nach Putin in die Hände spielt. Genauso wie Erdogan eifrig dabei ist mit seinen Forderungen die Einheit im Bündnis zu untergraben.
Ich verstehe nicht mit welchen Hintergedanken Scholz agiert. Russlands Säbelgerassel ist nicht mehr als das: konventionell sind alle verfügbaren Truppen bereits in der Ukraine im Einsatz und selbst wenn liegt ja immer noch Polen dazwischen. Genauso brauchen sich die Finnen keine Sorgen zu machen, die 6. Armee die eigentlich an der russisch-finnischen Grenze stationiert ist wurde beim Kampf um Charkow arg dezimiert.
Bleibt die nukleare Drohung, die ja auch eifrig bemüht wird. Hier gilt aber immer noch der geniale Spruch aus dem Don Camillo Film:
Peppone: "Halt oder ich schieße"
Don Camillo: "Vorsicht Peppone! Ich kann auch schießen"
Einen Nuklearangriff auf NATO-Territorium würde die NATO unzweifelhaft mit einem Gegenschlag beantworten, deshalb ist das keine Option. Selbst die Auslöschung Kiews würde nichts bringen, da viele Heiligtümer und wichtige historische Stätten Russlands dort liegen und es käme wohl in Russland nicht gut an, das alles in strahlenden Schutt zu verwandeln. Einmal abgesehen davon, dass Russlands Einsatzdoktrin das nicht vorsieht und der Fallout durch den vorherrschenden Westwind Richtung Russland geweht wird, Kiew liegt ja unweit der Grenze.
Ich weiß es nicht ob es also die Angst vor dem Säbelgerassel ist oder die Rücksicht auf eine Bevölkerung die anscheinend Angst davor hat - man denke nur an den unsäglichen offenen Brief von Emma & Co. Es ist auch bezeichnend, dass mit Scholz, Macron und Draghi gerade die drei Regierungschefs nach Kiew gefahren sind deren Bevölkerungen die niedrigsten Zustimmungswerte für den Krieg haben. Plant man damit, einen Appeasementfrieden mit Putin zu schließen damit man dann dank der zurückhaltenden Unterstützung bessere Gasdeals bekommt? Das ist ja schon irrsinnig abwegig. Oder hat man Angst davor, dass Putin den Gashahn ganz zudreht? In keinem anderen Land ist die Diskrepanz zwischen versprochenen und tatsächlichen Lieferungen so groß, und wir reden hier gar nicht mal um Spenden aus Bundeswehrbeständen sondern auch um die Waffen die die Ukraine selbst bei der Industrie kaufen und bezahlen will. Zum Beispiel die Leopard 1 und die Marder, die Ausfuhrgenehmigungen warten seit März auf die Unterschrift. Und die Liste ist ja noch länger: die Gepard-Flakpanzer, die Panzerhaubitzen, das Flugabwehrsystem was irgendwann im Herbst geliefert werden soll ... was soll das?
Es wird immer wieder davon gesprochen, dass man den Dialog mit Putin nicht abreißen lassen darf. Man stelle sich einmal vor wie die Welt heute aussehen würde wenn man sich 1945 damit begnügt hätte wenn sich Deutschland auf die Grenzen von 1939 oder noch genauer, die von 1914 zurückgezogen hätte und Hitler und seine Nazis an der Macht geblieben wären. Die Frage an Putin kann nur sein wann er in eine Zelle in Den Haag umziehen will, jetzt oder wenn er nicht mehr an der Regierung ist. Für die Ukraine ist eine Kapitulation keine Option, wie man ja überall im russisch besetzten Territiorium sieht gehen die Morde an der Zivilbevölkerung einfach weiter.
Ich weiß wirklich nicht, ob Scholz die Tragweite seiner Entscheidungen so bewusst ist. Man kann es drehen und wenden wie man will, aber Deutschland ist nun einmal die wirtschaftlich und potentiell militärisch stärkste Nation auf dem Kontinent und wie wir wissen respektiert Putin nur Stärke. Und in diesem Krieg steht nicht mehr oder weniger auf dem Spiel als das Verhältnis westlicher Demokratien zu Autokratien und Diktaturen für die nächsten Jahrzehnte. Genau das wissen allen voran die Polen, Tschechen und das Baltikum und deshalb steht bei ihnen die Unterstützung der Ukraine überhaupt nicht zur Diskussion. Jeder kann sich dort daran erinnern was die Russen gemacht haben und es ist auch genauso klar, dass die Geschichte nach einem Appeasement nicht erledigt ist, genauso wie sie 1938 in München nicht erledigt war. Wenn man mit einem Schlingerkurs die Ukraine nur halbherzig unterstützt - "zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig", dann verlängert man den Krieg nur effektiv und macht sich für alle dadurch entstehenden Opfer mitverantwortlich.
Wie gesagt, Russland kann nur gewinnen wenn es den Psychokrieg gewinnt und das westliche Bündnis spaltet, getreu dem alten Zitat: "Divide et Impera". Im Moment sehe ich starke Tendenzen der drei wichtigsten europäischen Länder vor Putin zurückzuweichen, sei es aus Angst, Gier oder was auch immer.
Und für die Getreidelieferungen über das Schwarze Meer gibt es genauso einen Präzendenzfall: bis 1942 hatten die deutschen U-Boote strikte Anweisung alle US-Schiffe in Ruhe zu lassen, die folgerichtig ihre Flagge hell angeleuchtet haben und gefahren sind wohin sie wollten. Wenn man jetzt leere Getreidefrachter unter US-Flagge nach Odessa schickt, was kann Putin da tun?
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