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Es geht abwärts

Im Zusammenhang mit der Wahl Trumps zum US-Präsidenten muss man sich auch noch einmal Gedanken darüber machen warum es in weiten Teilen der Welt einen solchen Rechtsruck gibt. Ich habe ChatGPT mal ein paar Fragen gestellt und danach die Metafrage: "ist das normal solche Fragen zu stellen?" und die Antwort war recht nett - meine Fragen zielen auf ein "systemisches Verständnis" ab und das ist natürlich nicht normal. Aber darum geht es mir auch: großräumige Zusammenhänge zu analysieren und zu verstehen wie das alles zusammenhängt.

Trumps Bewegung hat als Motto ja "Make America Great Again" - und damit ist des Rätsels Lösung ja eigentlich schon offensichtlich. Es ist etwas was vielen Menschen wahrscheinlich direkt so gar nicht bewusst ist, aber mit einer tiefgreifenden Analyse ist an dem Gefühl dass es abwärts geht schon etwas dran, und eben vor allem im ländlichen Raum wo ja Trump hauptsächlich seine Unterstützer hat. Der wurde über lange Zeit vernachlässigt, wie man aber an den Zahlen sieht leben etwa genausoviele Menschen dort wie in den Städten.

Es ist sehr schwierig genau festzumachen wann der Höhepunkt erreicht beziehungsweise überschritten wurde, genauso wenn man mit dem Fahrrad über eine Kuppe fährt und nicht gerade ein Passschild am Scheitelpunkt steht. Man merkt das eigentlich erst wenn es wieder abwärts geht und man zurückschaut. In der Welt kommt noch dazu dass es ja nicht nur eine Entwicklungskurve gibt sondern eine ganze Menge davon und bei manchen geht es unzweifelhaft immer noch aufwärts. Dazu passt dann auch so schön dass die MAGA-Anhänger auf die Frage, wann denn America great gewesen sei und zu welcher Zeit sie zurückwollten keine richtige Antwort haben. So funktioniert das Spiel eben nicht und das ist auch der große Fehler des Rechtsrucks: man kann das Problem eben nicht dadurch lösen dass man die Zeit zurückdreht. Auch wenn das die rechten Akteure versprechen.

Ich wohne hier ja auch eindeutig im ländlichen Raum, in einer Stadt die mal 1.800 Einwohner hatte von denen vielleicht noch zwei Drittel übrig sind. Die nächste Großstadt ist eine Stunde Autofahrt entfernt und das nächste Ballungszentrum 120 Kilometer Luftlinie oder zwei Stunden. Wenn ich jetzt abschätzen müsste wann wir etwa den Höhepunkt überschritten haben, alle Kurven zusammengenommen, dann würde ich das ganz grob irgendwo zwischen 1990 (Zusammenbruch des Ostblocks) bis 2014 (Annexion der Krim und erste gewaltsame Verschiebung von Grenzen in Europa) ansetzen. Mit dem Terrorangriff auf das World Trade Center 2001 ziemlich genau in der Mitte, der ein erstes Fanal für eine "Zeitenwende" war. Wie gesagt, das ist alles sehr, sehr vage und alles andere als genau.

Am einfachsten und offensichtlichsten ist das in der Geschäftswelt vor Ort festzumachen. Das hier war mal die Haupt-Einkaufsstraße, jetzt ist alles leer:

Graf-Dietrich-Straße in Neuerburg
Graf-Dietrich-Straße in Neuerburg

In diesem Zeitraum sind verschwunden: drei Bäckereien, drei Metzgereien, zwei Schuhläden, drei Friseure, eine größere Anzahl von Gaststätten, mehrere Restaurants, drei Malerbetriebe, zwei Elektriker und so weiter, nur um ein paar zu nennen. Über das genaue warum? muss man sich an anderer Stelle Gedanken machen, aber dass wir hier einen Höhepunkt an lokaler wirtschaftlicher Entwicklung überschritten haben dürfte klar sein. Im Gesundheitswesen sieht es nicht anders aus, da hatten wir auch drei Hausarztpraxen von denen nur noch eine übrig ist. Ein Krankenhaus was auch schon lange zu ist und regional sieht es nicht besser aus - auch die Krankenhäuser in Trier-Ehrang, Hermeskeil und Gerolstein sind entweder schon ganz zu oder so gut wie. Die Tour die ich 1997 als Zivildienstleistender mit meinen Medikamenten gefahren bin gibt es so also schon lange nicht mehr.

Natürlich kann man sagen dass die Medizin allgemein Fortschritte gemacht hat - man muss aber jetzt immer eine Stunde bis dahin fahren und die Wartezeiten auf einen Termin sind zum Teil auch ewig lang.

Wir können auch mal einen Blick auf die Kultur werfen, vor allem mein Steckenpferd, die Rockmusik. Wenn man etwas weiter zurückschaut - Anfang der 1980er Jahre gab es eine wahrhaft stürmische Entwicklung wo die Bands wie Pilze aus dem Boden geschossen sind - sowohl in der New Wave of British Heavy Metal als auch in Deutschland wo die Neue Deutsche Welle genauso stürmisch abgelaufen ist. Diese ganze Vorwärtsbewegung ist praktisch erstarrt, entweder touren noch die Dinosaurier von damals oder Produkte wie Taylor Swift die mit massiver Autotune-Unterstützung zu einem Backingtrack singt, wenn überhaupt. Und lokal sieht das auch nicht anders aus - ich kann mich gut daran erinnern wo früher überall die Plakate hingen wo es gerade überall Livemusik gab - das ist auch alles Geschichte. Selbst zu meiner Zeitungsreporterzeit, also von 2010 bis 2013 gab es noch eine ganze Handvoll an großen Livemusik-Parties, keine Ahnung was davon noch übrig ist. Wenn man sich ansieht was auf den "Suche nach Band" Portalen los ist hier im ländlichen Raum die Musikszene praktisch tot.

Der gesellschaftliche Zusammenhalt speziell in kleinen Gemeinschaften ist auch noch ein wichtiger Aspekt. In den Städten hat die Entwicklung schon wesentlich früher angesetzt mit der Rekrutierung der "Gastarbeiter": zuerst Italiener, dann Griechen und Türken. Auf dem Land hat man davon aber nichts mitbekommen. Zuwanderung gab es immer schon, aber zum Beispiel die Hugenotten die sich hier niedergelassen haben wurden so vollständig von der Landbevölkerung assimiliert dass man das nur noch an den Namen wie Demoling oder Fabry erkennt. Aber zu meiner Schulzeit gab es die erste große Welle an Russlanddeutschen die hier ihr Förderinternat hatten. Inzwischen gibt es selbst in meiner Nachbarschaft schon einige die nur rudimentär deutsch sprechen. Und an die Dialekt sprechenden Post- und Paketboten erinnert man sich nur noch wehmütig zurück, wer heute Pakete ausliefert kann ja oftmals nicht mal mehr deutsch lesen. Und es bedarf keiner großen Fantasie was es für eine Kleinststadt bedeutet wenn die Bevölkerung schrumpft und dann noch einen maßgeblichen Zustrom von Fremden bekommt. Über Jahrhunderte gewachsene Strukturen werden so zerstört weil die Assimilierung da nicht mehr hinterherkommt. Das lässt sich zumindest klar benennen: die Politik hat hier andere Gesichtspunkte vorangestellt und mit ihrer Zuwanderungspolitik die strukturelle Integrität der Gesellschaft einfach überfordert mit der Folge dass diese jetzt in viele kleinere Parallelgesellschaften zerfallen ist.

Wenn man jetzt den Blickwinkel radikal ändert und sich Beispiel die globale Entwicklung von Freiheit und Demokratie ansieht - auch da gab es die Höhepunkte 2004 oder 2016, seitdem geht es ebenfalls abwärts und ehemalige Demokratien werden wieder Autokratien, selbst vor unserer Haustüre in Ungarn oder in der Türkei, die zwar noch nominell demokratisch sind aber praktisch keine freien und fairen Wahlen mehr haben. Und wenn auch noch einen anderen Blick auf die Welt wirft: in dem Zeitraum von 1990 bis 2014 hat sich die Weltbevölkerung von 4,4 auf 7,4 Milliarden fast verdoppelt. Da aber der globale Wohlstand zumindest lose an den Pro-Kopf Energieverbrauch gekoppelt ist ist das natürlich fatal in Bezug auf das Ziel einer nachhaltigen Nutzung der Erde.

Was auch in diesen Zeitraum fällt und auch sicher Mitschuld an der Entwicklung ist ist der Aufstieg des Internets, der Digitalisierung und der Informationsgesellschaft. Das ist ja grundsätzlich nichts schlechtes und bringt auch seine Vorteile mit sich, aber die Nachteile darf man nicht übersehen, welchen Weg diese stürmische Entwicklung genommen hat. Zum Beispiel ist ebay ja als digitaler Flohmarkt auf die Welt gekommen. Aber es hat nicht allzu lange gedauert bis dieser von professionellen Händlern mit Neuware gekapert wurde und jetzt nur noch ganz am Rand etwas mit Flohmarkt zu tun hat. Genauso Youtube - da gab es auch sehr viele persönliche Videoblogs, die sind aber auch schon zugunsten von professionell gemachten Kanälen verschwunden. Dasselbe gilt für Foren und Blogs - auch da gab es wie in der Musik zuerst eine stürmische Entwicklung wo neues wie Pilze aus dem Boden geschossen ist, nur um sich dann immer mehr zu professionalisieren, zu generalisieren und zu einer Einheitssoße zu werden die nur noch von wenigen Akteuren beherrscht wird. Diese ganze Entwicklung kann man gut mit einem Absterben der Vielfalt gleichsetzen, sowohl in solchem gesellschaftlichen Rahmen wie auch in der Natur, zum Beispiel dem Rückgang der Artenvielfalt, die auch etwa seit 1985 (Living Planet Index) in allen Lebensräumen sinkt. Im Internet ging das alles viel schneller, aber auch da sinkt die digitale Vielfalt eben auch schon seit einiger Zeit.

Ein weiterer Faktor läuft auch schon schleichend und hat die Arbeitswelt massiv umgestaltet: "früher" haben Unternehmen ihre Mitarbeiter vor allem als Kapital gesehen. Und das würde heute wahrscheinlich noch mehr als früher stimmen, denn es ist ja deren Wissen und Fähigkeiten die das Unternehmen überhaupt erst zu dem machen was es ist. Es dürfte in keinem Unternehmen für jeden Arbeitsplatz eine vollständige Dokumentation der Aufgaben geben, was genau zu tun ist damit die Abläufe funktionieren. Die gibt es höchstens für die bereits automatisierten Arbeitsschritte. Wenn der Mitarbeiter weg ist, dann ist automatisch auch sein Wissen weg.

Seit etwa den 70er Jahren hat aber der Kapitalmarkt eine immer stärkere Position eingenommen und damit die Vorstellung des "Shareholder Value", dass Rendite an erster Stelle steht. Das hat sich während der Reagan-Ära, der Dotcom-Blase und der 2016er Krise immer weiter verschärft - inzwischen wird der Mitarbeiter eben nicht mehr als Kapital, sondern nur noch als Kostenfaktor gesehen. Das bleibt aber nicht ohne Folgen - während der Mitarbeiter auf die Wertschätzung eben mit Engagement und Einsatz reagiert hat, wird durch seine Reduktion auf einen Kostenfaktor die von ihm verrichtete Arbeit eben auch nur noch als "Schaffen zum Geldverdienen" gesehen - und keinen Deut mehr. Und das hat dann Folgen auf das Produkt was am Ende entsteht, das entwickelt sich zwar technologisch weiter, die Qualität leidet aber einfach darunter wenn sich niemand mehr Mühe gibt. Also befinden wir uns auch hier auf einem absteigenden Ast, wo es immer schwerer wird jemanden zu bekommen der etwas macht und das dann auch noch von schlechterer Qualität ist.

Der nächste Faktor wäre dann zum Beispiel die Infrastruktur. Auch wenn es offizielle Untersuchungen gibt die anscheinend die Behauptung widerlegen dass die öffentliche Infrastruktur "auf Verlust gefahren wird" - ich brauchte einen Moment um herauszufinden wo der Haken liegt. Es stimmt dass der Nettowert tatsächlich konstant bleibt - also der Anschaffungswert abzüglich der Abschreibung die ja in etwa den Verschleiß und die Veralterung abbildet. Das ist auch schon seit 20 Jahren so. Also schön - kann man dann daraus schließen dass in die öffentliche Infrastruktur genug investiert wird damit sie nicht verfällt? Nein, leider nicht, Stillstand ist Rückschritt und zwar ganz einfach zu erklären warum: wir haben ja (oder hatten es zumindest) ein stetiges Wirtschaftswachstum über die letzten 20, 30 Jahre. Und eine gewachsene Wirtschaft braucht eben eine verbesserte Infrastruktur, keine konstante. Das ist nämlich genau die Situation die wir haben: der heutige Verkehr auf Brücken die für den Verkehr der 70er ausgelegt sind. Der Nettowert der Infrastruktur hätte also zumindest parallel mit dem Wirtschaftswachstum mitwachsen müssen. Da er es nicht getan hat - klar, auch hier geht es seit ein paar Dekaden abwärts.

Das alles passiert schleichend und Menschen sind eben nicht gut darin solche schleichenden Prozesse bewusst zu erfassen. Aber unbewusst wünscht man sich eben "früher" zurück und weil die Politik der ganzen Entwicklung mehr oder weniger hilflos zugesehen hat greift der Wähler eben auf immer radikalere Parteien zurück die immer realitätsfernere Versprechungen machen. Das ist aber logisch: wenn alles was die Politik verspricht ein "Weiter So!" ist (und das à la Merkel auch noch auf Wahlplaktate druckt) - und genau das das ist was die Bevölkerung nicht will - dann strömen diese natürlich zu den Kräften die es "anders" machen wollen. Das diese "anders" Pläne nicht funktionieren - das sehen die kurzfristig denkenden Wähler natürlich nicht. Und eine Alternative gibt es einfach nicht. Rein vom gesunden Menschenverstand müsste man a) die Probleme erkennen b) daraus langfristige Lösungsansätze aushandeln die die Interessen der verschiedenen Gruppen angemessen berücksichten und die dann c) konsequent umsetzen. Aber das ist mit der existierenden Struktur einfach nicht möglich. Wenn nur Interessenvertreter der verschiedenen Gruppierungen am Tisch sitzen die sich jeweils für die nächste Wahl profilieren wollen dann kann keine ausgleichende, unabhängige und neutrale Lösung dabei herauskommen.

Um es ganz salopp zu sagen: Ja, wir sind am Arsch und eine Lösung ist nicht in Sicht. Und ich bin auch noch dazu verflucht eine Persönlichkeit zu haben mit der ich genau sehe dass wir am Arsch sind und selbst wenn mir Lösungen einfallen würden kann ich genau nichts daran ändern weil mein Einfluss praktisch bei Null liegt. Selbst wenn dieser Text hier öffentlich ist - niemals werden ihn genügend Menschen lesen um damit irgendetwas zu bewirken.

Vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Entwicklung in Berlin: die Parteien sind nach dem Zusammenbrechen der Ampel jetzt alle scharf auf Neuwahlen. Aber sieht das niemand dass das was man sich dabei erhofft höchstwahrscheinlich eben nicht dabei herumkommt? Merz und Lindner schielen wohl auf Schwarz-Gelb, aber das geht eben aufgrund der oben genannten gesellschaftlichen Zersplitterung eben auch schon seit zehn Jahren nicht mehr, Überraschung! Gewinnen werden AfD und BSW - und nach der Wahl steht man vor einem schlimmeren Scherbenhaufen aus jetzt. Und alle rufen fröhlich "voran!".

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