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Gefangen in Dogmen und Paradigmen

Ich probiere jetzt mal etwas neues. Ich habe ein paar Blogartikel, die ich zwar vorgeschrieben habe, dann aber aus irgendwelchen Gründen nicht veröffentlicht habe. Und gegeben der ganzen Sachen die in der Welt passiert sind, sind diese inhaltlich inzwischen überholt. Als ich diesen hier nochmal gelesen habe, fand ich es aber einfach zu schade ihn in die Tonne zu treten.

Heute beim Duschen ist mir dann plötzlich eingefallen (ich hatte ja schonmal geschrieben wie Introverted Intuition funktioniert) wie ich das sogar zu meinem Vorteil nutzen kann: Nachdem ich ja oft Zeitungsartikel oder Leserbriefe schonungslos kommentiere und meinen Senf dazugebe, kommentiere ich mich jetzt selbst - in hindsight (ist schon witzig wenn man praktisch zweisprachig unterwegs ist und einem manchmal Worte in einer Sprache einfallen die man einfach nicht richtig übersetzen kann). Geschrieben wurde der Text am 9. Februar - damals gab es noch keinen Krieg in der Ukraine, nur die Verschärfung der russischen Aggression.


Je älter ich werde, desto mehr fällt mir auf wie sehr sich die Mainstreamgesellschaft von meiner Weltanschauung unterscheidet. Eigentlich wird mir fast jeden Tag schlecht wenn ich in die Zeitung schaue. Die Ordnungskräfte, also Politik und Verwaltung sind derart in einem Geflecht von Dogmen und Paradigmen gefangen, dass real erreichbare Ziele völlig unerreichbar werden, einfach weil sich dann viel zu schnell zwei unvereinbare Dogmen blockieren.

Der "normale" Mensch orientiert sich bei der Entscheidungsfindung eben zuerst an einem festgelegten Wertekodex und bekannten Mustern und entscheidet danach. Ich hingegen hinterfrage ALLES. Natürlich nicht ständig, was ich einmal hinterfragt habe bleibt gespeichert, aber wenn sich die Umstände ändern kommt auch das wieder auf den Prüfstand. Andere Menschen übernehmen aber ihre Meinung oft von der Umgebung. Wenn auch noch Werbung solcherart daherkommt finde ich das ja nur noch lächerlich, so nach dem Motto: "alle in [Ort hier einfügen] wollen [Produkt hier einfügen]", was ja als Internet-Werbebanner häufig vorkommt.

Kann es eine doofere Werbung geben?
Kann es eine doofere Werbung geben?

Und traurigerweise funktionieren die sozialen Fake News- und Hetznetzwerke nach genau diesem Prinzip, eine Nachricht die einer gewissenhaften Prüfung nicht standhält würde ja sonst niemals weiterverbreitet.

Und leider, leider führt das im großen Rahmen nirgendwohin. Nehmen wir ein Tagesthema: Prostitution. Moralisch kann man davon halten was man will, sie existiert aber und ist auch nicht wegzudiskutieren. Nach langem Kampf wurde die Prostitution ja legalisiert und die Angestellten genossen den Schutz von Sozial- und Krankenversicherung und haben auch ihre Steuern bezahlt. Und was passiert dann: Ein "Prostituiertenschutzgesetz" wird verabschiedet. Die Idee dahinter mag zwar positiv sein, bei der Umsetzung haben dann irgendwelche Moralapostel in den Verwaltungen (Dogma: Prostitution ist pfui) die Vorschriften dazu genutzt, durch nicht erfüllbare, vor allem bauliche Bedingungen einen Großteil der legalen Bordelle zu schließen. Neue werden auch nicht genehmigt, dafür findet sich immer irgendwas im Bebauungsplan und sei es der Mindestabstand zu Jugendeinrichtungen der das ganze Stadtgebiet umfasst (genau wie bei den Spielhöllen).

Das Ergebnis ist ja oberflächlich super: Die Bordelle sind weg, also gibt es keine Prostitution mehr und damit keine zu schützenden Prostituierten. Illegal ist ja verboten und wir lassen das vom Ordnungsamt stärker überprüfen. Nur war das in der Realwelt totaler, dem Ziel völlig entgegenwirkender Schwachsinn, noch verstärkt durch die Corona-Vorschriften die auch fleißig für Bordellschließungen genutzt wurden. Die Nachfrage ist unvermindert da und damit wurden die Frauen in die Illegalität getrieben und haben jetzt gar keinen Schutz mehr. Es ist ja nicht so, dass jemand mit diesem Beruf nach Jobverlust nach Luxemburg ins Fondsmanagement wechseln könnte. Das übergeordnete Ziel (menschenwürdige Arbeitsbedingungen) wird also von eigentlich untergeordneten Dogma (Prostitution ist pfui) verhindert.

Das war ganz genauso beim nächsten Tagesthema: illegale Glückspielautomaten. Wie gesagt, dank neuer Vorschriften mussten praktisch alle Spielsalons geschlossen werden. Super, Problem gelöst! Die Realität: Jetzt gibt es eine Schwemme an illegalen Automaten, die für die Gefährdungsgruppe noch viel schlimmer sind weil die Verluste nicht begrenzt sind. Vorher konnte man diese Menschen finden und betreuen, das geht jetzt nicht mehr.

Drogen unterliegen dem gleichen Prinzip: Richtet man nicht mehr Schaden dadurch an, dass man eine Gruppe von Substanzen verbietet? Eine Legalisierung wäre ein sehr schwerer Schlag gegen die organisierte Kriminalität und die Zielgruppe wäre auch viel leichter präventiv zu erreichen. Wer Drogen konsumieren will macht das ja so oder so, das ist genauso wie bei dem Witz: "Früher ist jede Woche jemand von dieser Brücke in den Tod gesprungen. Jetzt sind es weniger, weil es verboten ist." Das Verbot hält zwar einige wenige ab, aber ist das die Nachteile wert?

Dann hätten wir die Pazifisten. Die haben ja ein sehr starkes Paradigma. Nur hält das den Kontakt mit der realen Welt nur in Ausnahmefällen stand. Die sieht so aus wie in einem Lucky Luke-Comic: (Räuber): "Halt, habt ihr Gold?" (Lucky Luke): "Ja - und genügend Blei zum Schutz desselben". Man braucht ja nur einen Blick in die Zeit von 1933 bis 1939 zu werfen - hat das etwa funktioniert, Adolf Hitler einfach das zu geben was er wollte? Österreich, das Sudetenland - selbst wenn man Polen auch noch aufgegeben hätte, wäre es trotzdem zum Krieg gekommen.

Volltreffer. Putins Argumentation mit "NATO rückt an Russland heran", "fühlt sich bedroht" etc. war alles nur Geschwätz. Genauso wie Hitler will Putin sein Reich vergrößern und Appeasement war und ist wirkungslos.

"Du sollst nicht töten" ist ein ähnliches, aber eben etwas anderes Paradigma als Pazifismus. Gewalt als Mittel der Wahl um das zu bekommen was man will lehne ich auch ab, schon alleine weil es objektiv selten einen Vorteil hat "wer zum Schwert greift wird durch das Schwert umkommen". Wenn aber jemand anderes aggressiv wird dann muss man bereit sein, seine Paradigmen auch zu verteidigen.

Wenn man also Putin alles gibt was er haben will, dann führt das nirgendwohin, weil man dabei seine eigenen, anderen Werte wie das Selbstbestimmungsrecht der Völker verrät. Nachdem sich Putin de facto das ganze russlandfreundliche Gebiet der Ukraine einverleibt hat, kann man es dem westorientierten Rest dann verbieten, in die NATO zu wollen um sich gegen weitere Aggression zu schützen? Und der pazifistische Ansatz von Rot-Grün hat ja dann zu der völlig lächerlichen Lieferung von 5.000 Helmen geführt, noch nicht einmal die 100.000 die gewünscht waren. Dann wäre es ehrlicher gewesen, wenn Bundeskanzler und -minister Selfies von ihren Allerwertesten gemacht hätten und per WhattsApp an ihre Ukrainischen Kollegen geschickt hätten.

Hier gilt mal wieder das, was auch im Artikel Warum regieren INTJs nicht die Welt? geschrieben steht: Alle anderen müssen sich erst mal die Nase einrennen bevor sie einsehen dass die INTJs von Anfang an recht haben. Die pazifistische Einstellung von Rot-Grün ist ja schnell gestorben und der Grundsatz "keine Waffen in Krisengebiete" hat nur ein paar Wochen lang durchgehalten. Niemand hätte mir vor dem Krieg geglaubt dass Deutschland Panzerhaubitzen schicken würde.

Witzigerweise scheint Scholz der Einzige zu sein, der sich der Tragweite von NordStream2 bewusst ist, indem er sich beharrlich weigert klarzustellen dass bei einem Angriff Putins das Ding gestorben ist. Hier ist nämlich das Paradigma der "Energiewende" wichtiger - und die geht eben nur mit russischem Gas als Puffer für Dunkelflauten. Wenn Frau Baerbock die Pipeline hingegen infrage stellt dann muss man an ihrem Realitätsverstand zweifeln, denn dieser Zusammenhang sollte ja eigentlich in Regierungskreisen bekannt sein.

Hier lag ich anscheinend falsch. Die Energiewende ist einen genauso schnellen Tod gestorben wie der Pazifismus und die dreckigsten Kraftwerke werden wieder reaktiviert um den Atomausstieg beibehalten zu können. Bei der Zögerlichkeit von Scholz lag ich richtig: Man hätte schon vor dem Krieg Putin ausdrücklich sagen können, dass es sich das Rohr von NordStream2 in den Allerwertesten schieben kann. Es hätte am Verlauf der Dinge nichts geändert, aber es wäre zumindest eine schöne Botschaft gewesen.

Wenn man also alles infrage stellt und nach den Zusammenhängen sucht und dann überlegt was man tun kann um das gewünschte Ziel zu erreichen, dann ergeben sich gleich eine ganze Palette von Maßnahmen. Abwehrwaffen sind ja für einen Angriffskrieg kaum zu gebrauchen, wenn man also Panzerabwehrraketen und Flugabwehrsysteme liefern würde - oder noch schneller nach russischem Vorbild samt Personal ausleihen (offiziell machen die Leute eben Urlaub in der Ukraine und haben ihr Equipment halt mitgenommen). Oder man könnte auch auf die Schnelle einen großangelegten Liefervertrag mit den USA über Flüssiggas abschließen, samt dem Aufbau der dazugehörigen Infrastruktur. Das wäre eine Sprache die Putin versteht. Aber nachgeben und ihm seine Einflusssphäre zur persönlichen Verwendung überlassen? Das ist unverantwortlich, ja geradezu egoistisch gegenüber allen Menschen die das Pech haben dort zu leben und die noch dazu um Unterstützung bitten. Ja, Pazifismus ist egoistisch, wenn ich sehe wie eine Oma überfallen wird und ich schaue weg weil ich ja keine Gewalt gegenüber dem Räuber anwenden will der sich naturgemäß kaum zur Flucht überreden lassen lässt.

Noch Fragen? Ich habe alles vorausgesehen, lange bevor es Realität wurde. Stattdessen wurde Zeit verschwendet um nachher dann doch genau das zu machen (außer dass der Gasdeal mit Katar geschlossen wurde) was ich geschrieben habe. Der Pazifismus hatte noch ein letztes, äußerst unrühmliches Aufbäumen in dem offenen Brief an Scholz in der EMMA

Wenn man alles hinterfragt, dann hinterfragt man auch automatisch die Menschen von denen man sich abhängig macht. Und meine Lebenserfahrung war bisher immer dass dieses Vertrauen enttäuscht wurde. Insofern war das eine völlig bescheuerte Idee, sich so vom russischen Gas abhängig zu machen nur um das Paradigma des "bösen Atomstroms" erfüllen zu können. Die INTJ-Denkweise ist eben: Ich habe ein Ziel und muß das tun was eben getan werden muss um es zu erreichen, egal ob mir diese Maßnahmen gefallen oder eben nicht. Solange es eben einigen wenigen, ganz grundsätzlichen Dogmen nicht widerspricht. Das ist witzigerweise auch ein Grund warum ich in Crusader Kings 3 so schlecht war: Den mir zugeordneten Bischof kann man nicht abberufen, selbst wenn er ein Vollidiot ist. Man kann zwar einen "Unfall" arrangieren, aber das widerstrebt eben meiner Moralvorstellung. Sobald man aber auf nationaler Ebene Verantwortung übernimmt dann kommt man zwangsläufig in die Situation, Menschenleben opfern zu müssen um andere Ziele zu erreichen. Die können so wertvoll sein wie sehr viel mehr Menschenleben zu retten oder eben Geld zu gewinnen oder zu sparen.

Weit hergeholt? Mitnichten, die Corona-Lockerungsdiskussion ist genau das. Eine Lockerung jetzt würde die Wirtschaft entlasten, aber eben auf Kosten von ein paar hundert Toten pro Tag mehr. Es ist halt nur nicht so direkt und offensichtlich wie ein Angriffsbefehl oder ein Todesurteil zu unterschreiben.

Es wurden ja fast alle Maßnahmen fallengelassen und im Prinzip ist es fast so wie vor Corona, inklusive Oktoberfest. Der Preis ist nicht offensichtlich und aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden, lässt sich aber in den Zahlen nachvollziehen. Über den Sommer 2021 gab es im Mittel vielleicht 50 Tote pro Tag, 2022 mit den Lockerungen eher um die 100 und im Frühjahr nochmal doppelt so viele. Ich lag also nicht ganz falsch. Das macht irgendwo zwischen 6.000 und 10.000 zusätzliche Tote. War die Normalität es wert?

Um es abzuschließen: Die Mehrheitsdenkweise, seine Entscheidungen mit Hilfe eines engmaschigen Netzes aus Dogmen und Wertvorstellungen zu treffen führt leider nirgendwohin und ist wird mir von Tag zu Tag immer fremder. Und noch schlimmer ist, dass ich eben nichts dagegen tun kann, auch wenn ich mein Leben lang schon gegen den Strom geschwommen bin und eigentlich nie etwas damit erreicht habe.

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