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Abstraktion

In meinem letzten Artikel habe ich herausgearbeitet, warum die parlamentarische Wahldemokratie eine schlechte Idee ist: weil die Menschen die die Macht der Wahl haben, diese nicht weise einsetzen. Aber warum ist das eigentlich so? Es waren wieder ein Zeitungsartikel und ein paar Leserbriefe die mir einen Hinweis gegeben haben.

Der Zeitungsartikel handelte davon dass regionale deutsche und französische Politiker von Luxemburg Ausgleichszahlungen gefordert haben, nach dem System wie Belgien sie schon seit Jahrzehnten bekommt. Und die Leserbriefe hatten alle so den Tenor, dass Luxemburg doch so viele positive Nebeneffekte für die Region hätte, dass es für die 60.000 Grenzgänger doch gar keine Arbeitsplätze auf dieser Seite geben würde, dass Rente mit 57 und viel niedrigere Steuern doch etwas gutes wären.

Und - mal wieder Introverted Intuition - etwas später ist mir jetzt eingefallen was das bedeutet. Um es mit einem Wort zu sagen: Abstraktion. Und das ist mal wieder etwas, was mich von der Mehrzahl der anderen Menschen deutlich unterscheidet.

Die Leserbriefschreiber sehen die Situation ganz klar durch ihre eigene Brille - es steht natürlich nicht dabei, aber es ist davon auszugehen dass es sich um Grenzgänger handelt. Und diese möchten ihre Vorteile natürlich nicht verlieren oder gemindert sehen. Die allermeisten Menschen handeln so: wenn sie es mit einem Problem zu tun haben, dann betrachten sie es in erster Linie aus der Position wie es sie selbst betrifft und - siehe den vorherigen Artikel - das auch noch kurzfristig.

Das ist menschlich und natürlich kann ich mich nicht völlig davon freisprechen. Aber bezüglich der eingefärbten Brille reden wir hier von einer ganz anderen Größenordnung: INTJs sind dafür berüchtigt, die wohl krassesten Abstraktionsfähigkeiten in der Welt der Persönlichkeitstypen zu haben (neben INTPs). Schon einmal von einem Advocatus Diaboli gehört? Nein, das ist kein besonders niederträchtiger Vertreter seiner Spezies, sondern die Fähigkeit eine Position zu vertreten die gar nicht die eigene, persönliche ist.

Und das bedeutet eben, dass anders als 95% der Bevölkerung ein INTJ seine persönliche Sichtweise zurücklassen kann, sich auf einen neutralen Standpunkt versetzen und das Problem von allen Seiten betrachten kann. Und diese Selbstdistanzierung ist die einzige Möglichkeit, ein Problem wirklich zu erfassen und zu lösen. Und praktisch allen anderen Menschen fehlt diese Fähigkeit. In der Atomkraftdiskussion geht es zum Beispiel in erster Linie um die persönliche Angst der Menschen: vor einem GAU, vor der unbekannten "Strahlung", vor dem "Müll", der irgendwo in ihrer Nähe verbuddelt werden soll - und weil diese Ängste den Menschen viel näher sind als die anderen, viel abstrakteren und unpersönlichen Faktoren färbt das ihre Sichtweise.

Um zu dem Beispiel Luxemburg zurückzukommen bin ich nicht ganz neutral - die Tatsache dass keine qualifizierten Arbeitskräfte mehr zu bekommen sind ist eben darauf zurückzuführen. Aber ich erkenne diese persönliche Beeinflussung und klammere sie bewusst aus.

Und das ermöglicht mich eben, statt des kleinen, auf mich und meine umittelbare Umgebung gerichteten Scheinwerferkegels das große Gesamtbild zu erfassen. Oder zumindest dies als Ziel zu haben. Denn das erklärt auch warum der Stereotyp dass INTJ stur sind und immer recht haben nicht stimmt: Ein großes Gesamtbild kann man schon per Definition nicht vollständig erfassen. Man kann sich zwar bemühen, alle relevanten Faktoren zu berücksichtigen aber es wird immer etwas geben was man nicht bedacht hat. Und sofern die Persönlichkeit eine gesunde ist wird man neue Faktoren immer berücksichtigen. Selbst wenn man es aus Stolz nicht direkt tut, dann eben heimlich im stillen Kämmerlein.

Und das große Gesamtbild besagt eben, dass Luxemburg seine Wirtschaftskraft auf die Arbeitskräfte baut die es jeden Tag aus der Umgebung abfischt - die Bevölkerung verdoppelt sich praktisch tagsüber. Aber wie bei einem Teich ist es kein einfacher Abfluss, wo Fische, Algen und Schlamm einfach gleichermaßen abfließen würden, sondern clevererweise arbeitet das Land mit einem Netz und holt sich sozusagen nur die Pralinen aus der Schachtel. Außenherum bleiben dann Algen und Schlamm zurück. Und wenn man Fische im Überfluss hat, dann kann man diesen natürlich auch die tollsten Bedingungen bieten.

Nur was die Fische eben nicht sehen: dass damit ihre Schlafbiotope langsam zerstört werden. Und das Problem hat sich in den letzten zwanzig Jahren extrem verschärft: die Arbeitsmärkte im Einzugsbereich Luxemburgs sind inzwischen völlig zerstört. Das merkt man aber erst wenn man zum Beispiel einen Handwerker braucht: man findet keinen mehr weil die Betriebe aus Mangel an Arbeitskräften sterben wie die Fliegen. Nicht mit einem Knall und Insolvenz, sondern still und heimlich. Und erst dann werden die Meschen aufwachen und erkennen was passiert ist. Der Sportartikelversender der sich auf dem Bitburger Flugplatz ansiedeln will scheint das irgendwie noch nicht erkannt zu haben - die 700 bis 1.500 Arbeitsplätze die er schaffen will kann er aus dem was aus dem Pool noch übrig ist gar nicht besetzen. Oder er macht das so wie das Amazon-Logistikzentrum in Trier: die Fahrer sind dafür berüchtigt weder Deutsch noch irgendeine andere Sprache zu sprechen oder lesen zu können die hier gebräuchlich ist.

Deswegen ist die Forderung nach den Ausgleichszahlungen ja auch nicht sonderlich hilfreich, sondern auch wieder nur persönlich von den kommunalen Verwaltungen betrachtet: diese haben die Kosten für die Infrastruktur zu stemmen, bekommen aber von ihren Bürgern außer der Grundsteuer keine Steuereinnahmen. Aber das ist eben nur ein Teil des Problems. Helfen würde es nur wenn man die Besteuerung und Sozialversicherung komplett vom Wohnort abhängig macht, das würde das Spielfeld soweit egalisieren dass es wieder interessanter (und nebenbei umweltverträglicher) ist, einen Job vor der Haustüre anzunehmen anstelle jeden Tag -zig Kilometer zur Arbeit zu pendeln.

Wenn ich also auf etwas stolz bin, dann eben auf meine Fähigkeit meinen eigenen Vorteil hintenanzustellen. Selbst wenn ich bei der Argumentation nachher nicht gegen meine Interessen gehe, so ist doch zumindest die Analyse neutral oder so neutral wie es eben geht. Aber so lange die Entscheidungen von denen getroffen werden deren Blick so persönlich eingefärbt ist wird immer etwas suboptimales dabei herauskommen.

Und wie extrem das sein kann - man braucht nur Anne Spiegel als Beispiel zu nehmen. Am Tag nach der Flutkatastrophe lag ihr Fokus nicht darauf - wie es ihr Amt eigentlich erfordert hätte - den Flutopfern zu helfen und sich um die Infrastruktur zu kümmern. Nein, sie sah das komplett durch ihre persönliche Brille und ihre Aufmerksamkeit lag darauf wie sie die mediale Aufmerksamkeit zu ihren Gunsten ausnutzen beziehungsweise Schaden von ihrer Person abwenden konnte. Und gerade in der Politik ist dies mehr die Regel als die Ausnahme, wie zum Beispiel bei Macron der das bewusst in Kauf nimmt von den Franzosen gehasst zu werden. Und man kann über Gerhard Schröder alles sagen, aber als er Hartz IV durchgedrückt hat hat er es im vollen Wissen gemacht dass es das Richtige ist und ihn sein Amt kosten kann. Was sogar noch mehr wert ist als bei Macron der ja nicht mehr wiedergewählt werden kann.

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