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Epidemie der Unlust

Unter den vielen Entwicklungen der Gesellschaft ist eine die sowohl sehr schädlich als auch für mich völlig unverständlich ist: Niemand gibt sich mehr Mühe, sein Bestes zu geben. Oder auf neudeutsch: Niemand hat mehr Bock und ist interessiert an dem was er macht, eben besonders im Arbeitsleben. Wobei natürlich "niemand" etwas übertrieben ist, Ausnahmen bestätigen die Regel.

Und für mich mit Enneagramm 5(w4w6)-1 ist das natürlich überhaupt nicht nachvollziehbar. Ich habe das entgegengesetzte Problem was mich im Prinzip sogar daran hindert Vollzeit-Küchenmonteur zu werden: Ich bin mit meiner eigenen Leistung praktisch nie zufrieden und das setzt mir psychisch zu. Wenn es nach mir ginge würde ich noch viel mehr wieder auseinanderbauen um es im zweiten Versuch besser hinzubekommen was natürlich kaufmännisch Blödsinn ist. Und deshalb ist es ganz gut dass ich zusammen mit meinem Vater auf Montage fahre, er ist da ein guter Orientierungspunkt und wenn er sagt das ist gut so, das fällt niemandem sonst auf - selbst wenn es für mich offensichtlich ist - dann lasse ich mich beeinflussen.

Ein schönes Beispiel für diese Einstellung ist dieser Song von Nightwish - Sleeping Sun, die 2005 überarbeitete Version einer 1999 erschienen Single:

Auf das Thema gekommen bin ich durch ein Youtube-Video von Rick Beato wo es um Livemusiker mit Backingtracks ging. Das MilliVanilli - Fiasko ist ja praktisch weltweit bekannt, wo durch eine Panne offensichtlich wurde das mit Plackback aufgetreten wurde. Und das ist praktisch Betrug am Zuschauer der ja viel Geld für eine Liveshow ausgegeben hat.

Rick Beato hat hier eine sehr pragmatische Einstellung: Je nach Kompositon des Songs klingen diese Live ziemlich mau wenn die ganzen Effekte fehlen und es spricht nichts dagegen diese vom Band zuzusteuern - und dem kann ich nur zustimmen.

Es hängt vom Genre und der Band ab - manchmal funktionieren Live-Versionen sogar sehr gut, man denke nur an die schnelle Live-Version von "We will Rock you" von Queen auf dem Live Killers-Album . Auf der anderen Seite gibt es Bands zum Beispiel im Symphonic Metal die stark auf Orchester- und Chorsounds setzen und die kann man schlecht weglassen ohne den Song kaputtzumachen. Und da es bei einer Tour ja immer ums Geld verdienen geht - Emerson, Lake & Palmer hatten 1977 die Idee mit einem Sinfonieorchester auf Tour zu gehen und sind darüber bankrott gegangen. Man überlege mal wie hoch alleine die Übernachtungskosten für ein paar Dutzend Musiker sind - von der Gage für ein halbes Jahr ganz zu schweigen wenn es alleine ein paar hunderttausend Euro kostet das Orchester für die Studioaufnahmen zu engagieren. Und deshalb ist auch klar warum die Klassik so sehr an öffentlichen Geldern hängt ...

Und da sind wir wieder am Ausgangspunkt: Wenn man also nicht mit Live-Orchester und -Chor spielen kann, dann sollte man aber zumindest versuchen, sein Bestes dabei zu geben und möglichst die am besten klingende, authentischste Live-Version auf die Bühne zu bringen. Deshalb finde ich übrigens die Scardust-Coverversion der Nightwish-Songs so gut - die haben einen Chor weil es ein Heimspiel ist und das gibt den Songs eine völlig neue Qualität:

Aber zurück zu Sleeping Sun. Das hier ist also die 2006er Liveaufnahme. Man sieht in den Eingangstakten ganz eindeutig, dass er nur die Hintergrundharmonie spielt und nicht die Melodie (klingt nach Celesta?) und das ist für mich auch Beschiss:

Gut, das habe ich jetzt nicht selbst ausprobiert wie sich das in eine spielbare Live-Version umsetzt aber wenn man zweimanualig spielt - also Harmonie links und Melodie rechts - sollte das gehen. Bei Coverversionen verstehe ich auch noch dass man gerade die Keyboardparts nicht richtig hinbekommt - es ist verdammt schwer zu hören was da an Hintergrundharmonie abgeht. Aber er ist schließlich der fucking Komponist von dem Ding und so ziemlich der Einzige der die Orginalnoten hat.

Als frischer Schlagzeuger der sich stundenlange Mühe gegeben hat eine exakte Transkription der Plattenversion zu erstellen und diese dann zu üben ist die Liveversion oben ein Schlag ins Gesicht. Sorry das sagen zu müssen, aber Jukka Nevalainen hatte offensichtlich live entweder keinen Bock oder - noch schlimmer - hat den Studiopart gar nicht selbst gespielt. Oder keinen Bock, seinen eigenen Studiopart auswendig zu lernen (man kann auch ein Schlagzeug nach Noten spielen). Und es wäre ein sehr lahmes Argument dass er keine Chimes und kein Tamburin hat - man sieht bei 2:45 ganz eindeutig die Chimes und die gehören eigentlich in den Hintergrund während meines Schnipsels oben - wenn man ein Stadion füllt, dann sollten die 50€ für das Tamburin im Budget sein. Und die spieltechnische Umsetzung habe sogar ich als Anfänger mit einem halben Jahr Spielpraxis hinbekommen. Die Chimes sind am Anfang und in der Break jeweils bevor das restliche Schlagzeug einsetzt und wenn man das Tamburin in die Mitte zwischen HiHat und Ride positioniert kann man mit der rechten Hand problemlos den sehr charakteristischen Tamburinschlag jeweils in das restliche Pattern einfügen. Und man beachte, dass das "Plick" mal auf dem 4. Schlag ist und im Wechsel auf der 4-und sowie später im Song zusätzlich auch auf der 2.

Das einzige was man zu seiner Entschuldigung beitragen könnte wäre dass die ursprüngliche 1999er Version tatsächlich nur etwa die Hälfte dieser Elemente drin hat die er weggelassen hat. Aber die Liveaufnahme ist von 2006, wo die Neuaufnahme ja noch praktisch "frisch" ist, also die Tour zu der 2005er Version. Ich habe mich echt abgemüht bei dem Pattern - Studio ab ca. 2:50 - wo 32-stel Noten auf den Hihat drin sind (in beiden Studioversionen!). Als ich die Beispiele zusammengestellt habe ist mir übrigens aufgefallen dass ich nochmal umüben muss, da fehlt ein Beat auf der Kickdrum und ganz regelmäßig ist es auch noch nicht:

Transkription des Drumparts des Zwischenspiels der 2005er Version

Live wird das von allen weggelassen. Bei obigem 2006er Livemitschnitt:

Der Gesangspart ist aber auch ein schönes Beispiel dafür wo Backingtracks sinnvoll sind. Dieser Teil ist ja ein Multilayer-Chorus-Effekt drauf plus der Livestimme ist es effektiv zweistimmiger Gesang und einer der schönsten Stellen in dem Song - da fehlt etwas wenn man den weglässt. Das ist das Problem an der 2015er Live-Version mit Floor Jansen und Kai Hahto am Schlagzeug - da fehlt etwas:

Hatten Sie keinen Backingtrack mit Floor? Sie haben das etwas umgemodelt. ein ganzes Stück weggelassen inklusive dem Drumfill und er spielt den Choreffekt auf dem Synth mit, aber doll ist das nicht. Ich musste ganz schön überlegen bis ich die passende Stelle gefunden habe. Positiv ist dass Toumas gemerkt hat dass man wenigstens beim Intro die Melodie mitspielen muss sonst wird es unglaubwürdig. Warum er es bei der zweiten Strophe dann nicht macht - keine Ahnung. Ja, ich kenne den Song mittlerweise in- und auswendig, das bleibt nicht aus wenn man den über Wochen jeden Tag beim Üben ein paar Mal durchspielt und die Knackpunkte noch viel öfter. Der Witz ist dass es dann wohl bei der 2015er Version keinen Backingtrack gibt, es also wirklich komplett live ist.

Nightwish ist ja nur ein Beispiel, das Problem ist aber verbreitet. Bei Rock You Like a Hurricane von den Scorpions haben die Strophen eins und drei ein charakteristisches HiHat-Pattern:

Drumpart der ersten Strophe von Rock You Like a Hurricane

wobei bei Strophe drei jeder zweite Schlag auf der Snare durch einen auf der Tom ersetzt wird, soweit so gut. Dann kommen wir zu Strophe fünf (auf der Studioaufnahme etwa ab 3:00 Minuten), und da wird es erkennbar, aber stark variiert:

Es ist schwierig zu sagen was das zwischen Schlag drei und vier genau ist. Aus meiner begrenzten Erfahrung würde ich auf einen Buzz Roll (Presswirbel) tippen und spiele das so:

Transkription des Drumparts von Strophe drei

Und was ist Live (Live in Berlin 1990):

Einfach weggelassen. Genauso wie das in der käuflichen Transkription weggelassen wird und in den Coverversionen auf Youtube auch. Gut, meine Buzzroll ist noch etwas schwach (die 2A Drumsticks helfen), möglicherweise liegt es auch an der digitalen Snare, aber man kann es definitiv original nachspielen. Warum macht das aber keiner?

Aber um zum Fazit zu kommen: Wenn man bedenkt welchen Aufwand ich betreibe um das optimale Ergebnis herauszubekommen, dann ist es echt frustrierend zu beobachten wenn so viele Menschen nach der "kein Bock" - Einstellung es einfach mit minimalem Aufwand so gut sein lassen wie es ist. Nicht besser können würde ich ja noch akzeptieren, aber das das dürfte in den wenigsten Fällen der Fall sein, es gibt viele Nightwish-Songs die mir noch definitiv zu schwer sind, die Typen können ja Musik machen. An diesem Beispiel kann man das sehr schön nachvollziehen, aber das Problem zieht sich durch die ganze Gesellschaft bis zu Handwerkern und Schreibtischtätern die es alle besser könnten aber es nicht wollen beziehungsweise keinen Bock darauf haben. Und es kann mir niemand erzählen, dass in den Beispielen oben weglassen besser ist.

Und im Umkehrschluss ist das natürlich die ultimative Erklärung warum ich kaum mal jemanden lobe und immer unzufrieden mit anderen bin: wenn man selbst nur dann zufrieden ist wenn man so ziemlich seine beste Leistung abgeliefert hat dann kann man natürlich nicht mit jemandem zufrieden sein der Mist abgeliefert hat und das wahrscheinlich auch noch weiß und besser könnte, sich aber einfach nicht die Zeit dafür nehmen will. Und das bezieht noch nicht einmal die Tatsache ein dass ich selbst das was ich als "fertig" abgeliefert habe häufig immer wieder noch einmal überarbeite wenn ich eine Möglichkeit gefunden habe es eben noch besser zu machen, das ist mir besonders bei den Elektronikprojekten aufgefallen die ich ständig überarbeitet habe. Und das hängt eben auch mit meinen Verbesserungsvorschlägen zusammen und da ist es derselbe Frust: man könnte es besser machen, hat aber einfach keinen Bock drauf.

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Es ist jetzt ja ein Jahr her dass ich mehr oder weniger aus einer Laune heraus angefangen habe Schlagzeug zu lernen. Und innerhalb von zwei Wochen hatte ich jetzt zwei denkwürdige Erlebnisse in diesem Zusammenhang. Ich wusste dass mein Onkel so vor vierzi

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